Das Europäische Parlament hat heute mit sehr großer Mehrheit seine Zustimmung für eine neues Gesetz zum Schutz von Zivilgesellschaft und Journalist:innen abgegeben. Nun müssen die Mitgliedstaaten im Rat noch einmal zustimmen, was üblicherweise eine Formsache ist. Danach wird die neue Richtlinie in Kraft treten.
Die EU-Kommission hatte vor zwei Jahren ihren Vorschlag für die Richtlinie vorgelegt. Damit reagierte sie auf immer wiederkehrende Versuche, durch beharrliche und gehäufte Klagen selbst legitime Kritik an Personen oder Unternehmen zu verhindern. Diese Klagen nennen sich Einschüchterungsklagen, auf Englisch „Strategic Lawsuits against Public Participation“ oder kurz SLAPP. Ein Beispiel dafür war Daphne Caruana Galizia, eine maltesische Journalistin, die über Korruption in Regierungskreisen berichtete und letztlich mit einer Autobombe ermordet wurde. Zum Zeitpunkt ihrer Ermordung liefen 43 Einschüchterungsklagen gegen sie.
Diese Verfahren können selbst dann ihr Ziel erreichen, wenn sie offensichtlich unbegründet sind. Denn Redaktionen oder zivilgesellschaftliche Organisation sind finanziell oft nicht stark genug aufgestellt, und Gerichtsverfahren können sehr teuer werden – sogar dann, wenn man am Ende Recht bekommt. Eine freie Journalistin, die mehrere Dutzend Gerichtsverfahren begleiten muss, wird außerdem weniger Zeit für ihre Recherchen haben.
Geld-zurück-Garantie
Um Aktivist:innen und Presse vor solchen Klagen zu schützen, plante die Kommission in ihrem Gesetzesvorschlag einen schnellen Ausweg. Betroffene können nun vor Gericht beantragen, das eine eingereichte Klage abgelehnt wird. Bis dahin wird das Verfahren eingefroren. Ein zentraler Punkt: Die Klägerin muss beweisen, dass ihre Klage nicht unbegründet ist. Diese Umkehr der Beweislast nimmt Betroffenen eine große Last von den Schultern.
Die Betroffenen bekommen laut Entwurf außerdem alle Kosten des Prozesses erstattet. Damit können sie sich leisten, teure Anwält:innen für ihre Verteidigung zu engagieren, weil sie deren Honorare am Ende des Prozesses zurückbekommen. Die Kommission hatte auch geplant, dass Betroffene, die durch eine Einschüchterungsklage Schaden erlitten haben – etwa emotionalen oder geschäftlichen – auch diesen Schaden vollständig erstattet bekommen sollten.
Was heißt hier „grenzübergreifend“?
Im fertigen Gesetz ist diese Regelung nun allerdings stark eingeschränkt. Gerichte sollen nun in einzelnen Fällen entscheiden, ob Schäden erstattet werden sollen. Das haben die Mitgliedstaaten der EU in den Trilog-Verhandlungen durchgesetzt, in denen sie mit dem Parlament um Änderungen am Kommissionsentwurf feilschen.
Sie konnten auch durchsetzen, dass das neue Gesetz in weniger Fällen greifen wird. Denn die EU darf nur für grenzübergreifende Probleme Gesetze machen, dementsprechend gilt auch die Richtlinie nur für grenzübergreifende Einschüchterungsklagen. Nach dem Willen der Kommission sollte das schon Klagen umfassen, bei denen nur das Thema grenzübergreifend ist. Ein Beispiel dafür wäre die Klimakrise, gegen die sich Klima-Aktivist:innen in der ganzen Union engagieren.
Auch hier haben die Mitgliedstaaten das Gesetz verwässert. Klagen gelten nur noch dann als grenzübergreifend, wenn ein für den Fall relevantes Element in einem anderen Land liegt. Wie viele Fälle in der Praxis unter diese Definition fallen werden, wird sich zeigen – möglicherweise werden es aber nicht sonderlich viele: Die Koalition gegen Einschüchterungsklagen in Europa (CASE) verfolgte Fälle von 2010 bis 2022. Weniger als zehn Prozent der erfassten SLAPP-Klagen fielen unter ihre enge Definition von „grenzübergreifend“.
Und die Mitgliedstaaten haben das Gesetz noch in einem weiteren wichtigen Punkt geschwächt: Beim Abweisen der Klage. Betroffene sollen den Antrag darauf jetzt „in Übereinstimmung mit nationalem Recht“ stellen – eine weit gefasste Formulierung, mit der Mitgliedstaaten es Betroffenen sehr schwer machen könnten, an ihre Rechte zu kommen.
Beim Trilog gab es auch Erfolge. Der Kompromisstext stellt nun – wie von Rat und Parlament gefordert – klar, dass Journalismus nicht zwingend auf Papier gedruckt sein muss, um Journalismus sein zu dürfen. „Es sollte unterstrichen werden, dass Journalismus eine Funktion ist, die von einer weiten Bandbreite an Akteuren übernommen wird, inklusive Reporter:innen, Analyst:innen, Kolumnist:innen und Bloger:innen“, heißt es in den Erwägungsgründen für die Richtlinie. Das könnte auch ohne offiziellen Herausgeber und auch im Internet geschehen.
Mitgliedstaaten sind jetzt am Zug
Der Berichterstatter des EU-Parlaments, der deutsche Sozialdemokrat Tiemo Wölken, äußerte sich zufrieden mit dem Gesetz. Die Pressekonferenz im Parlament fand in dem Raum statt, der seit 2017 nach Daphne Caruana Galizia benannt ist. „Es ist wirklich ein großer Moment“, sagte Wölken dort. „Wir haben eine zusätzliche Schutzschicht für Journalist:innen erreicht.“ Manche würden auch von einem Gesetz für Daphne sprechen, so Wölken.
Viele Mitgliedstaaten hätten sich dem Parlament gegenüber bereits verpflichtet, die Rechte aus der Richtlinie auch auf Einschüchterungsklagen innerhalb ihrer Grenzen auszuweiten. Trotzdem blieben der EU dabei die Hände gebunden: „Wenn ein Mitgliedstaat die SLAPP-Richtlinie wirklich nicht mag und nicht auf nationale Fälle ausweiten will, dann haben wir keine Möglichkeit, sie dazu zu zwingen“, so Wölken.
Vertreter:innen der Zivilgesellschaft reagierten verhalten positiv auf die neue Richtlinie. „Die Richtlinie ist ein wichtiger Meilenstein für einen besseren Schutz der Grundrechte von SLAPP-Betroffenen“, sagte etwa Joschka Selinger von der Gesellschaft für Freiheitsrechte gegenüber netzpolitik.org. Aber: „Im Trilog wurden viele Schutzvorkehrungen der Richtlinie gestrichen oder so abgeschwächt, dass sie faktisch wirkungslos bleiben könnten.“ Die Richtlinie gebe in vielen Punkten die Verantwortung an die Mitgliedstaaten weiter. „Sie sind jetzt am Zug, die Richtlinie so umzusetzen, dass sie Betroffene wirksam schützen und SLAPP-Kläger abschrecken“, so Selinger.
Diesen Aspekt betonte auch die Koalition CASE. Die Richtlinie sei ein wichtiger und positiver Schritt nach vorne, schrieb die Organisation in einem Statement zum Ende der Trilogverhandlungen, und: „Mitgliedstaaten, das war euer Stichwort“. Sie sollten die Richtlinie nun als Mindeststandard verstehen.
„Viele Mitgliedstaaten hätten sich dem Parlament gegenüber bereits verpflichtet, die Rechte aus der Richtlinie auch auf Einschüchterungsklagen innerhalb ihrer Grenzen auszuweiten.“ …
=> Deutschland auch ?
„Die Bundesregierung wird im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates zum Schutz von Personen, die sich öffent-
lich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Ge-
richtsverfahren („strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung“) auch prü-
fen, ob und inwieweit gegebenenfalls für Fälle ohne grenzüberschreitende Be-
züge Regelungen notwendig und sinnvoll sind“
https://dserver.bundestag.de/btd/20/077/2007702.pdf (Juli 2023)
=> Hoffen wir mal, dass daraus ein klares „ja“ (auch ohne grenzüberschreitende Bezüge) wird für die deutsche Gesetzes-Umsetzung der EU-Richtlinie.
Danke für die Ergänzung!